Das Grauen des russischen Angriffskrieges kam in den frühen Morgenstunden des 24. Februar mit einem lauten Knall in das Leben von Slava Lochmann.
«Um 4.30 Uhr sind wir vom Geräusch der Bomben aufgewacht», berichtet der Nationaltrainer der ukrainischen Handball-Nationalmannschaft sichtlich bewegt. Seither ist für den 44-Jährigen nichts mehr, wie es war.
«Wichtig, dass die Familie in Sicherheit ist»
Mit seiner Familie flüchtete der ehemalige Bundesligaprofi des TV Großwallstadt zunächst aus der Wohnung im Zentrum Kiews zu einem Freund an den Rand der ukrainischen Hauptstadt. Als die Lage immer bedrohlicher wurde, machte sich Lochmann mit seiner Frau und den drei Kindern Anfang März über Ungarn auf den Weg nach Großwallstadt, wo er aus seiner aktiven Zeit noch viele Freunde und Bekannte hat. «Es ist wichtig, dass meine Familie in Sicherheit ist», sagt der frühere Rückraumspieler in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur.
Inzwischen hat er alle Nationalspieler, die nicht bei Vereinen im Ausland spielen, nachgeholt. Auch sie durften ihre Familien mitnehmen. «Ich wollte eigentlich nicht weg. Aber es war mir wichtig, meine Frau und meine Kinder in Sicherheit zu bringen», berichtet Torwart Gennadi Komok.
Der 34-Jährige ist einer von gleich elf Spielern, die beim Topclub Motor Saporischschja unter Vertrag stehen und wie Lochmann vom russischen Angriff überrascht wurden. Als die Mannschaft am 24. Februar vom Champions-League-Gruppenspiel beim polnischen Club Vive Kielce zurückkehrte, lag der Flughafen in Saporischschja unter Beschuss. Das Flugzeug wurde nach Kiew umgeleitet, wo es auf einem Feld landen musste. Auch in der Hauptstadt tobte bereits der Krieg.
Ukrainische Auswahl in Deutschland
Der Aufenthalt in Deutschland bringt etwas Normalität zurück. Doch die Sondergenehmigung des ukrainischen Sportministers gilt zunächst nur für 20 Tage. Lochmann hofft auf mehr Zeit. «Ich habe mit unserem Verbandspräsidenten gesprochen. Vielleicht können wir noch zwei Monate länger bleiben. Ich hoffe, dass die Mannschaft nicht nach Hause muss», sagt er.
Der Handball ist für Lochmann ein wichtiges Ventil, denn die schrecklichen Ereignisse in der Heimat lassen ihn nicht los. «Wenn wir trainieren oder spielen, bin ich zu 100 Prozent auf die Mannschaft fokussiert. Ansonsten denke ich nur an meine Eltern, mein Land und daran, was jetzt dort passiert», sagt der frühere Rückraumspieler.
Vor allem die Sorge um Mutter und Vater zehrt an seinen Nerven. Beide wohnen in Saporischschja im Süden der Ukraine. Als er neulich mit ihnen telefoniert habe, erzählt Lochmann, sei irgendwo in der Stadt eine Bombe detoniert. Dann heulten die Sirenen. «Sie mussten in den Luftschutzkeller. Dort sitzen sie dann den ganzen Tag», berichtet der sanfte Hüne. «Das ist scheiße.»
In der Heimat zu bleiben und gegen die Aggressoren zu kämpfen, wie es einige Sportler tun, war für ihn keine Option. «Wir kämpfen nicht an der Front, sondern in der Halle. Wir sind keine Soldaten. Ich habe nie in meinem Leben eine Waffe in der Hand gehalten, immer nur einen Ball», sagt Lochmann und ergänzt: «Der Handball ist mein Leben. Mein Land trage ich im Herzen.»
Ukraine hofft auf WM-Wildcard
Seiner Ansicht nach seien die Auftritte ukrainischer Sportlerinnen und Sportler bei Wettkämpfen ebenfalls von großer Bedeutung. «Wir müssen zeigen, dass wir ein Land haben», betont Lochmann. Deshalb wird in Großwallstadt zweimal am Tag jeweils zwei Stunden lang trainiert. Im Herbst beginnt die Qualifikation für die EM 2024 in Deutschland. «Dafür müssen wir präpariert sein», sagt der Coach.
Zudem liebäugelt er noch mit einer Teilnahme an der Weltmeisterschaft 2023, obwohl die Ukraine wegen des Krieges nicht zu den Playoff-Qualifikationsspielen gegen Finnland antreten konnte. «Ich hoffe, dass wir für die WM eine Wildcard bekommen», sagt Lochmann. Eines sei ihm aber noch viel wichtiger. «Mein größter Wunsch ist es, dass der Krieg schnell endet. Es sind schon viel zu viele Menschen gestorben, vor allem Kinder», sagt der Familienvater und fügt verzweifelt hinzu: «Und wofür?»